Vom 13.-16. Juli 2023 fand in der Villa Vigoni eine deutsch-italienische Tagung zum Thema „Organisation und Recht – ein rekursives Verhältnis? Konzeptionelle Überlegungen und ihre Anwendung auf die Energiewende im deutsch-italienischen Vergleich“ statt. Sie stand unter der Leitung von Prof. Dr. Giancarlo Corsi (Università degli Studi di Modena e Reggio Emilia) und Prof. Dr. Margrit Seckelmann (Leibniz Universität Hannover) und wurde unterstützt von Prof. Dr. Cristina Besio (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg). Fünfzehn Vortragende aus der Soziologie und der Rechtswissenschaft sowie mehrere Chairs beschäftigten sich mit der Frage nach dem wechselseitigen, rekursiven Verhältnis zwischen Recht und Organisation.
Primärer Gegenstand der Debatte war die Analyse des Prozesses (oder der Prozesse) der Mitgestaltung staatlich (bzw. unional) gesetzten Rechts durch die Rechtsadressaten. Formale Organisationen setzen nach Max Weber demokratisch legitimierte Gesetze um und bringen dabei ihre Fachkompetenzen ein. Organisationen mit ihren formalen Strukturen sind in diesem Sinne Rückgrat moderner Gesellschaften. In der Organisationssoziologie sowie der Implementationsforschung steht jedoch auch schon seit langem fest, dass Organisationen rechtliche Vorgaben nicht einfach „eins zu eins“ umsetzen. Organisationen passen Gesetze an ihre Bedürfnisse und jeweiligen Kontexte an und interpretieren sie ausgehend von ihren Zielen und internen Dynamiken. Dieses wirkt wiederum auf die Gesetzgebung zurück, die den Vorgang ihrerseits beobachtet und die entwickelten Lösungen entweder übernimmt oder aber bekämpft. Organisationen unterstützen aber auch aktiv den Gesetzgeber bei seiner Wissensbeschaffung (durch Beratung und Lobbyarbeit) und können auch insoweit Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Doch welche organisationalen Akteure haben mehr Einfluss? Wieweit reicht deren Einflussnahme? Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer „Zuarbeit“ und nicht mehr legitimer Einflussnahme? Der Erkundung dieser Fragen war die genannte Tagung gewidmet. Sie hat hierfür das konkrete Beispiel der Energiewende gewählt. Erkenntnisleitend war dabei die Überlegung, dass sich rekursive Verhältnisse insbesondere in noch nicht abgeschlossenen Transformationsprozessen beobachten lassen, wie die Energiewende einer ist. Der Vergleich zwischen zwei Ländern wie Deutschland und Italien, ermöglicht es zudem (verwaltungs-)kulturelle Aspekte des Phänomens hervorzuheben und darüber hinaus verschiedene Wege der Umsetzung von europarechtlichen Vorgaben durch die Mitgliedstaaten zu analysieren.
Nach einer Begrüßung durch die Veranstalter und einer Keynote von Prof. Dr. Günther Ortmann (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) zu „Organisation und Recht: Strange loops und entangled hierarchies“ wurden vier Themenblöcke behandelt: (1.) Organisationale Umsetzung von rechtlichen Normen, (2.) Organisationale Normgestaltung, (3.) Grenzen des Rechts und „brauchbare Illegalität“ und (4.) Rekursive Normenbildung in der Energiewende: Ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien. Ein Workshop in drei Gruppen und eine Schlussdiskussion unter der Leitung von Prof. Dr. Elena Esposito (Università di Bologna/Universität Bielefeld) vertieften die Erkenntnisse aus den Vorträgen.
Im Einzelnen trugen in Themenblock 1 (Organisationale Umsetzung von rechtlichen Normen) Prof. Dr. Alberto Cevolini und Prof. Dr. Giancarlo Corsi (beide Università di Modena e Reggio Emilia) zum Thema „Organisation als Form im Medium Recht“ vor sowie JunProf. Dr. Robert Jungmann (Universität Trier) zu „Rekursive Selbstbindung und organisationale Verursachung“. In Themenblock 2 (Organisationale Normgestaltung) wurden Vorträge von Prof. Dr. Arnold Windeler (Technische Universität Berlin) über „Rekursive Normenbildung im Feld“, Prof. Dr. Christian Bauervon der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung (Brühl) über „Partizipation und Gesetzentwicklung“, von Prof. Dr. Raimund Hasse (Universität Luzern/Universität Bielefeld) zum Thema „Recht und Regulierung in der Organisationsgesellschaft. Eine Wiederentdeckung“ und gehalten. Themenblock 3 (Grenzen des Rechts und „brauchbare Illegalität“) enthielt Vorträge von Prof. Dr. Luca de Lucia über „,Brauchbare Illegalität‘ im italienischen Verwaltungsrecht“ und von Prof. Dr. André Armbruster (Universität Duisburg-Essen) über „Verdrängte Illegalität“.
Diese theoretischen Überlegungen wurden in Themenblock 4 (Rekursive Normenbildung in der Energiewende: Ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien) weiter konkretisiert und operationalisiert. Dazu referierte Timo Hoffmann(Leibniz Universität Hannover) über „Politik und Regulierung der Energiewende in Deutschland“ sowie Anna Skripchenko und Dr. Marco Jöstingmeier (beide Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) über die Rolle der Energieversorger als Akteure bei der Normenbildung in der Energiewende. Daran anschließend nahm Jana Albrecht(Technische Universität Berlin) eine Feldanalyse bezüglich der Normenbildung in der Energiewende (in Deutschland) vor. Prof. Dr. Elena Buoso (Università di Padova) stellte sodann „Aspekte der Regulierung der Energiewende in Italien“ und Prof. Dr. Lorenzo De Vidovich (Università di Trieste) abschließend “Emerging organizational fields of renewable energy communities in Italy“ vor.
Die interdisziplinären Diskussionen waren sehr ergiebig und haben für ein wechselseitiges Lernen gesorgt. Im Ergebnis wurde klar, dass er juristische Rechtsetzungslehre und die soziologischen Ansätze der System- wie Strukturationstheorie, der Praxistheorie von Pierre Bourdieu und des Neoinstitutionalismus Anhaltspunkte für eine Fortentwicklung geben. Die Energiewende hat sich dabei im deutsch-italienischen Vergleich als ein Fall bestätigt, an dem partizipative Formen der Normengestaltung, die Rekursivität der Normenbildung sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung der Gesetzgebung in komplexen Bereichen hervorragend untersucht werden können. An den Fall kann man einerseits beobachten, wie die unterschiedliche Gesetzgebung in Deutschland und Italien für die organisationale Akteure der Energiewende unterschiedliche Chancen und Risiken eröffnet hat. Andererseits kann man feststellen, dass unterschiedliche Organisationen die Gesetze unterschiedlich reflektiert, interpretiert und angewendet haben. Gerade Erfahrungen der „Bürgerenergie“ tragen in beiden Ländern dazu bei die gesetzlich gewollten Energieziele umzusetzen und entwickeln dabei spezifische Lösungen und Geschäftsmodelle. Organisationen der Bürgerenergie (wie Energiegenossenschaften) bestätigen, dass alternative Formen der Energieversorgung möglich sind und gestalten zudem als von der Gesellschaft besonders hoch legitimierte Akteure Standards und Normen der Energiewende mit.
Zur Veröffentlichung der Beiträge dieser Tagung ist ein Special Issue der Zeitschrift „Soziale Systeme“ geplant. Die Veranstalter danken der Villa Vigoni, die dieses produktive interdisziplinäres Treffen ermöglicht hat und namentlich Dr. Helge Dresen für die gute Betreuung.